Computerspielabhängigkeit in der Corona-Krise - Einordnung der DAK Studie

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Jugendliche im Alter zwischen 10 und 17 Jahren, die mindestens einmal pro Woche spielen, verbrachten im April diesen Jahres fast 75 Prozent mehr Zeit mit digitalen Spielen. Zu diesem Ergebnis kam eine Untersuchung zur Mediennutzung der DAK-Gesundheit zusammen mit Forscher*innen des Deutschen Zentrums für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE).

von Daniel Heinz und Eva Hilger

Als Erhebungsinstrument wurde die GADIS-A Skala von der UKE benutzt, die eine Spanne von 12 Monaten abfragt. Dabei handelt es sich um einen Zeitraum, in dem es Corona zeitweise noch nicht gab. Verglichen mit dem September des vergangenen Jahres, wo die durchschnittliche Spieldauer werktags noch bei 79 Minuten lag, kletterte sie vier Wochen nach Beginn der Corona-Beschränkungen auf 139 Minuten. Dies rief sogar die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Daniela Ludwig (CSU), auf den Plan, die diese Nutzungszahlen als "heftigen Anstieg" interpretierte, der so nicht weitergehen dürfe. Was genau die Drogenbeauftragte mit Abhängigkeit von digitalen Spielen zu tun hat, wirft ebenfalls Fragen auf. Diese hat eine Kampagne zum Thema Medienkompetenz ins Leben gerufen, um geeignete Zeiten und Regeln für den Medienkonsum von Kinder und Jugendlichen festzulegen. Wenn man einen Blick in ihr Aufgabenprofil wirft, fällt auf, dass sie sich eigentlich ausschließlich mit Drogenpolitik befasst. Inwiefern sind digitale Spiele mit Drogenpolitik gleichzusetzen? Sollte es nicht vielleicht lieber eine_n Medienkompetenzbeuftragte_n im Bundestag geben? Reißerische und eindimensionale Presseberichte waren ebenfalls die Folge der Veröffentlichung. Viele von ihnen stellten einen monokausalen Zusammenhang zwischen Nutzungszeit und krankhafter Nutzung her.

Funktion des Gamings in der Corona-Krise
Diese Zahlen müssen jedoch differenzierter betrachtet werden. Denn digitale Spiele erfüllen während der Corona Krise auch eine wichtige Funktion und der größte Teil der jungen Gamerinnen und Gamer können hieraus auch Vorteile in der veränderten Situation mit Social Distancing und stark eingeschränkte Freizeitangeboten in der Corona-Krise ziehen. Denn digitale Spiele ermöglichen in den eigenen vier Wänden spannende Abenteuer, Kontakt zu Gleichgesinnten, erweitern individuelle Erfahrungs- und Handlungsräume und können auch durchaus lehrreich sein. Wenn Sportvereine schließen, dann liegt es eben nahe, gemeinsam mit seinen Freundinnen und Freunden FIFA, Mario Tennis oder Pro Evolution Soccer zu spielen. Zu diesen Ergebnissen kommt die DAK Studie ebenfalls; der Fragebogen ergibt, dass das Aufrechterhalten von sozialen Kontakten als Nutzungsmotiv an zweiter Stelle steht. Die WHO unterstützt dies ebenfalls und rät sogar dazu Games zu nutzen, um in Verbindung zu Freund_innen oder Familie zu bleiben. Auch die JIMplus Studie, die den Medienumgang während der Corona-Krise untersucht, kommt zu dem Ergebnis, dass Computerspiele das drittwichtigste Kommunikationsmedium sind. Eine Runde Fortnite bietet die kurzzeitige Auszeit von genervten Eltern, die wegen Homeoffice und Homeschooling allmählich die Nerven verlieren. 

Kriterien einer Abhängigkeit
Viele Eltern sind besorgt, ob das Spielverhalten ihres Kindes noch im Rahmen liegt oder bereits problematisch einzustufen ist. Das kann in Extremsituationen wie der Corona-Krise nicht alleinigst an der Spielzeit festgemacht werden. Vielmehr sind hier mehrere Aspekte zu betrachten, darunter das Nutzungsmotiv und die negativen Folgen. In der elften Version des ICD hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Computerspielabhängigkeit unter der Bezeichnung „Gaming Disorder“ zu einer eigenständigen Diagnose erklärt. Der ICD-11-Katalog benennt für die Diagnose einer Gaming Disorder drei Kriterien: 

1. Kontrollverlust über das Spielverhalten: wenn Personen selbst dann nicht aufhören zu spielen, wenn ein wichtiger Termin ansteht oder die Situation unangemessen erscheint.

2. Vorrang von Spielen gegenüber anderen Interessen: wenn sich Spielende von der Außenwelt abschotten und Freunde, Familie, Hobbys oder Pflichten vernachlässigen. Dieser Faktor kann durch die Kontaktbeschränkungen und Schließungen von Institutionen nicht richtig überprüft werden.

3. Eskalation des Spielverhaltens trotz negativer Konsequenzen: wenn es durch das Spielen in einem oder mehreren Lebensbereichen wie Schule, Beruf oder Gesundheit zu erkennbar negativen Konsequenzen kommt oder trotz persönlichem Leidensdruck nicht aufgehört werden kann.

Dabei muss das schädliche Verhalten länger als ein Jahr bestehen. Dieser Zeitraum ist mit der Studie noch nicht erreicht. Sie soll bis 2021 durchgeführt werden und kann durch eine zweite Welle und einen erneuten Lockdown wieder zu anderen Ergebnissen führen. Während Befürworter_innen der Gaming Disorder sich eine Etablierung neuer Hilfsstrukturen und Forschungsergebnisse erhoffen, steht die Diagnose auch in der Kritik der Fachöffentlichkeit. Viele Spielende mit problematischen Nutzungsmustern reduzieren ihre Nutzungszeiten auch wieder, wenn andere Aspekte im Leben bedeutsamer werden. In einer Längsschnittstudie von van Rooij et al. (2011), in der drei Prozent Online-Gamerinnen und -Gamer als süchtig eingestuft wurden, erfüllte die Hälfte der Beteiligten die verwendeten diagnostischen Kriterien nach einem Jahr nicht mehr – ohne dass hier eine professionelle Intervention stattfand. Und auch nach der Corona-Krise ist davon auszugehen, dass sich auch die Spielzeiten wieder normalisieren, denn bei den meisten Jugendlichen ist Gaming ein Hobby unter vielen.
Von einer Diagnose „Gaming Disorder“ fühlen sich nicht nur Spielerinnen und Spieler an den Pranger gestellt, die eine ähnliche stigmatisierende Debatte wie einst bei der „Killerspiel-Diskussion“ befürchten. Auch die Games-Industrie sorgt sich um ihren Ruf und eine gesellschaftlich als krankhaft wahrgenommene Ausübung eines Hobbys. Allerdings besitzt die Branche auch eine Verantwortung, die durch eine gesellschaftliche Debatte angeregt werden könnte. Zum Beispiel bezüglich einer Haltung gegenüber glücksspielähnlicher Mechanismen wie Lootboxen oder der Implementierung von Jugendschutzfunktionen in digitalen Spielen als Selbstverpflichtung. Besondere Vorsicht sollte bei der Diagnostik von Jugendlichen walten. Diese Lebensphase ist geprägt von exzessiven Verhaltensweisen sowie dem Ausloten von Grenzen. Werden Jugendliche in ihrer Rebellionsphase als abhängig abgestempelt, könnte dies langfristigen Einfluss auf das Selbstwertgefühl und damit auch negative Auswirkungen auf den weiteren Werdegang mit sich bringen. Laut Kritikerinnen und Kritikern sollte die Diagnose "Gaming Disorder" deshalb auf Erwachsene beschränkt werden. Sie könne zudem den Beginn einer zunehmenden Pathologisierung der Mediennutzung Jugendlicher darstellen, an deren Ende zahlreiche weitere medienzentrierte Krankheitsbilder stehen. 

Erkennungsmerkmale 
Inwieweit eine zeitintensive Nutzung von digitalen Spielen als bedenklich einzustufen ist, muss individuell geprüft werden. Dabei sollte nicht nur nach dem „Wie oft“ und dem „Wie lange“ gefragt werden. Vor allem das „Warum“ ist entscheidend, denn die Ursachen können vielschichtig sein und bestimmte Faktoren begünstigen eine Abhängigkeit. Dazu gehören:
persönliche Faktoren wie Einsamkeit, Schüchternheit oder geringes Selbstwertgefühl; Depression, Stress, (Versagens-)Ängste oder die Unfähigkeit, Probleme zu bewältigen; das soziale Umfeld, z.B. fehlende Aufmerksamkeit innerhalb der Familie; Mobbing in anderen Lebensbereichen (z.B. durch Mitschülerinnen und Mitschüler); Misserfolge oder mangelnde Erfolgserlebnisse im Alltag; die Internetnutzungserwartung (wird das Internet gezielt und in erster Linie dazu genutzt, um negative Gefühle zu unterdrücken, reale Probleme zu verdrängen oder zu vermeiden?); Langeweile und wenig befriedigende Interessen und Hobbies (z.B. Sport, Musik, Partys); kritische Lebenssituationen (Beziehungsprobleme, Trennungen, Probleme mit Schule, Beruf und Studium).

Tipps 
Um Heranwachsende sinnvoll zu begleiten, können Sie sich an den allgemeinen Tipps des Spieleratgeber-NRW orientieren. Im Folgenden finden Sie ergänzende Ratschläge:

  • Nicht jede Gaming-Session nach dem Homeschooling und jede durchspielte Nacht bietet Anlass zur Sorge. Achten Sie darauf, ob das Spielen zu Veränderungen, z. B. in Bezug auf schulische Leistungen, Kontakt zu Freunden, Freizeitaktivitäten oder Schlaf- und Ernährungsgewohnheiten führt. Sollten Sie dafür Anzeichen finden, ist es wichtig, im gemeinsamen Gespräch digitale Spiele nicht „zu verteufeln“. Viele betroffene Jugendliche erkennen nicht, dass ihr Verhalten problematisch ist und können die Folgen nicht überblicken. Machen Sie Ihr Kind im Gespräch auf Ihre Wahrnehmung aufmerksam und sprechen Sie ohne Vorwürfe und mit fundierter Haltung über die Medienangebote. Nur so erreichen Sie Ihr Kind. Und scheuen Sie nicht den Konflikt, manchmal müssen Eltern auch Grenzen deutlich aufzeigen.
  • Schon mit jüngeren Kindern sollten Sie einen Zeitumfang für das Konsumieren von digitalen Spielen festlegen. Dieser Rahmen kann nach und nach dem Alter bzw. dem Entwicklungsstand entsprechend angepasst werden. Mit älteren Kindern kann auch über Spielzeiten diskutiert werden. Schließlich sollen die Kinder lernen, Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen und ihre Mediennutzung selbst zu regulieren.
  • Suchen Sie nach den Gründen für den übermäßigen Konsum. Was fehlt Ihrem Kind im Alltag? Welche nicht befriedigten Wünsche und Bedürfnisse hat es? Wo liegen Sorgen und Probleme? Fehlen Halt und Anerkennung und wie können Sie das gezielt ändern? Fördern und gestalten Sie Freizeit- und Beschäftigungsmöglichkeiten in der Familie. Ermutigen Sie, zuvor ausgeführte Hobbys wieder aufzunehmen. Aktivitäten, die Gruppenerlebnisse vermitteln, wie Mannschaftssport oder pädagogische Angebote in einer Jugendeinrichtung, bilden ein sinnvolles Gegengewicht zu virtuellen Erlebnissen.
  • Sollten Sie zu dem Schluss kommen, dass Ihr Kind stark gefährdet oder bereits abhängig ist, sollten Sie unbedingt weitere Informationen und professionelle Hilfe einholen. Lassen Sie sich dabei unterstützen, Ihr Kind aus der Medienabhängigkeit herauszuholen. Anlaufstellen sind z.B. Sucht- und Familienberatungen, Kliniken oder Psychologen. Lesen Sie in Internetforen die Berichte und Erfahrungen anderer, von Eltern oder Betroffenen. Das hilft beim Verstehen und zeigt Ihnen, dass Sie mit der schwierigen Situation nicht allein dastehen.
  • Warum spielt Ihr Sohn oder Ihre Tochter? Geht es um den Kontakt zum Freundeskreis? Wird im Spiel Spannung und Abenteuer gesucht? Oder erfüllt es eine problematische Funktion, wie die Flucht aus dem konfliktreichen Alltag? Achten Sie unbedingt auf solche Aspekte und stellen Sie nicht alleinigst die Spielzeit in den Vordergrund. Auch ein Mediennutzungsvertrag für die Familie oder Spielzeitkonten, über die Ihre Kinder verfügen können, haben sich vielfach bewährt.
  • Einmal getroffene Vereinbarungen sollten beiderseits verbindlich eingehalten werden. Die Konsequenzen für die Nichteinhaltung getroffener Vereinbarungen sollten ebenfalls gemeinsam verhandelt und festgehalten werden. So kann aus erzielten Kompromissen ein Leitfaden für den Umgang mit Medien in der Familie werden, an den sich alle Familienmitglieder halten. Scheuen Sie dabei keine Konflikte. Eltern haben das Recht, den Medienkonsum sinnvoll zu beschränken, auch wenn sich daraus Streit ergibt. Dies gibt Heranwachsenden Sicherheit. Begründen Sie Verbote, damit Ihr Kind sich ernst genommen fühlt und einsieht, warum Sie Grenzen setzen.
  • Kinder wachsen heute in einer digital geprägten Gesellschaft auf und haben damit erweiterte Möglichkeiten, soziale Kontakte zu finden und zu pflegen. Rund um die Uhr, regional und global, mit Bekannten und Fremden. Eltern denken oft, nur die physische Begegnung habe einen Wert. Dies hat sich heute verändert.

Weitere Informationen
Dossier Sucht und Abhängigkeit auf klicksafe.

Literaturhinweise
https://www.dak.de/dak/bundesthemen/computerspielsucht-2296282.html#/
https://www.insuedthueringen.de/deutschlandwelt/brennpunkte/Jugendliche-nutzen-waehrend-Lockdown-laenger-digitale-Spiele;art2801,7332161
https://www.mpfs.de/studien/jim-studie/jimplus-2020/
https://www.spieleratgeber-nrw.de/10-Tipps-Familie.4592.de.1.html
https://www.klicksafe.de/themen/digitale-spiele/digitale-spiele/sucht-und-abhaengigkeit
https://www.klicksafe.de/themen/digitale-spiele/digitale-spiele/sucht-und-abhaengigkeit/rat-und-hilfe/
https://www.berliner-kurier.de/panorama/viele-kinder-zeigen-gefaehrliches-spieleverhalten-li.95733
https://icd.who.int/browse11/l-m/en#/http://id.who.int/icd/entity/1448597234
https://www.sueddeutsche.de/digital/computerspiele-und-psyche-wie-millionen-computerspieler-zu-suechtigen-erklaert-werden-sollen-1.3509072
https://www.br.de/radio/bayern2/sendungen/zuendfunk/warum-studie-zu-computerspielsucht-bei-jugendlichen-alarmierend-ist100.html
https://sites.oxy.edu/clint/physio/article/Onlinevideogameaddictionidentificationofaddictedadolescentgamers.pdf
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/medienkompetenz-1772578
https://www.drogenbeauftragte.de/beauftragte/aufgaben-der-drogenbeauftragten.html