A Normal Lost Phone

Genre
Adventure
USK
nicht USK geprüft (?)
Pädagogisch
ab 14 Jahre
Vertrieb
Plug In Digital Label
Erscheinungsjahr
2017.01
Systeme
PC, Mac, iOS, Android
System im Test
PC
Homepage des Spiels
Kurzbewertung
Einfühlsame Charakterstudie
Zusatzinformationen ausklappen
Interessant für
Jugendliche und Erwachsene, die sich mit ernsteren Themen in Spielen auseinandersetzen möchten
Sprache
keine Sprachausgabe; realitätsnahe, empathische Texte (deutsch/englisch)
Grafik
minimalistischer Comic-Look
Sound
melancholischer Indie-Rock-Soundtrack

Steuerung
einfach
komplex
Anforderungen
einfach
schwer
Zeitaufwand
gering
hoch
Spielwelt
linear
offen

Indentifikationsfiguren
Sam, der achtzehnjährige Besitzer des gefundenen Smartphones
Mehrspielermodus
nicht vorhanden
Spielforderungen
große Menge an Text
Zusatzkosten
nicht vorhanden
Problematische Aspekte
Emotional aufwühlende Inhalte
Autor
Ingmar Böke
Einzeltest
Screenshot 2Screenshot 3Screenshot 4Screenshot 5

Spielbeschreibung:
Ausgangsgrundlage der interaktiven Erzählung A Normal Lost Phone ist ein fremdes Smartphone, das den Spieler_innen in die Hände fällt. Anhand aktueller Textnachrichten lässt sich schnell rekonstruieren, dass der rechtmäßige Besitzer Sam heißt und an seinem achtzehnten Geburtstag verschwunden ist. Was zunächst wie das Szenario für einen Kriminalfall klingen mag, stellt sich stattdessen als feinfühlige Charakterstudie heraus.
Indem wir Sams E-Mails, SMS-Nachrichten und Tagebucheinträge lesen, uns in seine Online-Profile einloggen sowie private Fotos betrachten, lernen wir den Fremden auf eine sehr intime Weise kennen. Stück für Stück offenbaren sich die Sorgen und Ängste des jungen Mannes. In einer konservativen Stadt wünscht sich Sam nichts sehnlicher, als offen mit seinen transsexuellen Neigungen umgehen zu können. So erweist sich A Normal Lost Phone als eindringlicher Aufruf zu Toleranz gegenüber Anderen - unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung.

Pädagogische Beurteilung:
Melancholische Spielwelt
Der Titel setzt vollständig auf gezeichnete Grafiken. Bei einigen Fotografien, die wir auf Sams Handy entdecken, erfüllt der Grafikstil auch inhaltlich eine Funktion. Mit hellen und warmen Farben wird eine glückliche und harmonische Fassade gezeichnet. Lesen wir dann aber entsprechende Texte, wird deutlich, wie stark die äußere Hülle von Sams Innenleben abweicht. Auf eine Sprachausgabe wird verzichtet, ein melancholischer Indie-Rock-Soundtrack trägt zur leicht verträumten Spielatmosphäre bei.
Einige Bereiche des Handys sind passwortgeschützt, Hinweise auf die entsprechenden Passwörter – die jeweils auf einem, für Sam wichtigen Datum basieren - finden wir im Verlauf der Geschichte. Sieht man von solchen Mini-Rätseln ab, baut A Normal Lost Phone primär auf das Lesen von Texten, die wahlweise auch auf Deutsch verfügbar sind. Wer sämtliche Inhalte ausführlich liest, wird etwa zwei Stunden mit dem Titel beschäftigt sein.

Tragisch aber auch hoffnungsvoll
Auch wenn wir die Charaktere nur aus der Distanz kennenlernen, sind sie derart plastisch und lebensnah geschrieben, dass es sich gefühlt auch um real existierende Menschen handeln könnte. So lernen wir neben Sam unter anderem auch seine Familie, Mitschüler und Internet-Kontakte kennen. Mit sehr viel Feingefühl wird insbesondere die Lebenswelt junger Menschen an der Schwelle zum Erwachsenwerden geschildert. Per Smartphone kommunizieren die Adoleszenten über Themen wie Liebe, Sexualität, Familie oder ihre berufliche Zukunft. Deutlich werden in diesem Zusammenhang auch die Zwänge, denen die Jugendlichen als Teil einer Gruppe ausgesetzt sind. Welchen Einfluss eben jene Zwänge auf das Selbstbewusstsein haben können, wird exemplarisch an Sam belegt.
Ohnehin erweist sich A Normal Lost Phone in der Vermittlung von Sams Leidensdruck als besonders berührend. Etwa wenn es um das schwierige Verhältnis zu seinen Eltern geht, die zunächst einen positiven Eindruck erwecken. Dieses Bild ändert sich jedoch, sobald Sam ihre strikte Homophobie beschreibt, die auch vor der eigenen Familie nicht haltmacht. Die französischen Entwickler Accidental Queens scheuen sich grundsätzlich nicht, unbequeme Themen anzupacken - auch in Bezug auf den Suizid-Versuch eines Nebencharakters. Gleichzeitig verfügt das Spiel aber auch über sehr hoffnungsvolle Motive. So erfahren wir im späteren Verlauf, dass Sam nicht nur Gleichgesinnte findet, sondern letztlich auch sein Leben in die Hand nimmt und seinen eigenen Weg einschlägt.

Pädagogisch wertvoll
Der Gedanke, ein fremdes Smartphone auszuspionieren, erscheint wie eine unangenehme Grenzüberschreitung. Was zunächst noch hochgradig voyeuristisch klingt, relativiert sich allerdings. Die Ausgangssituation wird der Vermittlung einer Geschichte und ihrer Botschaft untergeordnet. Wie genau wir diese rezipieren, ist nicht entscheidend. Am Ende bleibt A Normal Lost Phone bei aller Realitätsnähe ein Videospiel. Der moralische Vergleich, ein fremdes Handy in der Wirklichkeit auszuspionieren, macht dementsprechend nicht viel Sinn.
Im Startbildschirm stoßen wir auf folgendes Statement der Entwickler: „Manche Charaktere treffen im Verlauf der Geschichte homophobe, frauenfeindliche oder intolerante Aussagen. Diese dienen der Handlung und reflektieren nicht die Meinung von Accidental Queens.“ Angesprochene Elemente erfordern nicht viel an Differenzierungsfähigkeit, da sie im Gesamtkontext eindeutig negativ besetzt sind. Grundsätzlich regt die Ausgrenzungsthematik auch über den Aspekt der sexuellen Orientierung hinaus zum Nachdenken an. Da insbesondere die Lebenswelt jugendlicher Menschen portraitiert wird, sollte selbigen der Bezug zur Spielwelt nicht schwerfallen. Emotional wird keine leichte Kost geboten, sodass ein Mindestalter von 14 Jahren empfohlen wird.

Fazit:
A Normal Lost Phone ist intelligent geschrieben, berührt und verfällt nicht in Klischees. Es schafft große Empathie für die adoleszente Hauptfigur und vermittelt eindrucksvoll, wie wichtig Toleranz gegenüber unseren Mitmenschen ist. Aufgrund emotional aufwühlender Inhalte wird ein Mindestalter von 14 Jahren empfohlen. Zwingend vorausgesetzt wird die Bereitschaft, große Mengen an Text zu lesen.